Nachbarschaft in Dannenberg West

Dannenberg West 2

Wenn ich T. auf der Straße treffe, frage ich mich jedes Mal: Grusel oder Mitleid? Was soll ich empfinden?

T. wohnt im Nachbar-Block. Sein Balkon liegt meinem ziemlich genau gegenüber. Vermutlich ist T. irgendwas in den 30ern oder 40ern. Wer weiß das schon genau. Die Dreckschichten, die er auf sich herumträgt, verschleiern möglicherweise sein wahres Alter. Sein Gesicht, sein ehemals weißes, jetzt gelb-braun geschecktes T-Shirt, seine Hose starren vor Dingen, deren Ursprung ich mir nicht näher ausmalen möchte.

Ich vermute, dass T. nicht lesen kann. Denn immer wenn er seinen Bekannten P. besuchen kommt, der in meinem Block wohnt, drückt er die falsche Klingel. Nämlich meine. Es sei so dunkel, da habe er den Namen nicht richtig lesen können, erklärt T. mir wiederholt. Und das auch gerne mal am hellichten Tag.

Im Grunde ist T. ein armes Schwein. Der liebe Gott (oder wer auch immer diese Schöpfung zu verantworten hat) hat ihn weder mit Schönheit noch mit besonderer Bildung versehen. Dafür aber mit einer auffallend geringen Frustrationstoleranz. Mit wunderbarer Regelmäßigkeit steht dieser schmutzige Mann auf seinem Balkon und bölkt lauthals in die Nachbarschaft. Und gibt so eine Art ortseigenen Propagandaminister: Wollt ihr den totalen Irrsinn?
Im harmlosesten Fall belegt er jede unschuldige Oma, die des Weges kommt, mit Tiernamen. Häufiger vergibt er Namen aus dem unteren anatomischen Bereich. Das alles grölt er mit einem Mordsorgan. Als hätte er drei Tage und Nächte durchgesoffen – was er vermutlich hat.

Neulich Nacht war er gut drauf. Seine Mutter war unerwartet verstorben. Immer wieder hatte ich diese Frau auf ihren salzstangendünnen Beinchen früh morgens zum Rewe-Markt stakeln sehen, wo sie sich mit ihrer “Hausmarke” eindeckte. Nun war sie also tot und T. hatte plötzlich eine Aufgabe. Er mußte ihre Wohnung räumen und erzählte mir stolz: „Ich schufte, ich schufte Tag und Nacht!“ Und er strahlte. In der folgenden Nacht stand er bis 2 auf dem Balkon und grölte Weihnachtslieder. O Du selige…. er war definitiv selig.

Heute nachmittag war nun wieder eher der Gauleiter dran. Er bölkte irgendwas von „…erst mal richtig DEUTSCH lernen!!“ Und: „Jetzt läuft dieser Drecksneger wieder über meinen Rasen!“ Zwischendurch brabbelte er Unverständliches.

Grusel oder Mitleid. Ich kann mich nicht entscheiden.

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